Fahrt an die Grenze zur Ukraine – Hilfe für Geflüchtete

Tue, 29 Nov 2022 07:33:46 +0000 von Andreas Zachmann

Nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine bildeten sich auch in Gellersen Unterstützungsgruppen für die vom Krieg betroffene Zivilgesellschaft der Ukraine. Am Freitag, 11. März, fuhr die WhatsApp- Gruppe „StandWithUkraine“ bereits zum zweiten Mal an die polnisch-ukrainische Grenze. Diesem Konvoi schloss ich mich an. Vollgepackt mit Konserven, Hygiene- und medizinischen Artikeln, Getränken, Kinderspielzeug, Decken, Schlafsäcken und weiterem Bedarf verließ gegen 13 Uhr ein 18-köpfiges Team mit neun Kleinbussen, bereit zur Aufnahme von fast 50 Personen, den Treffpunkt auf den  Sülzwiesen.

Über Berlin geht es an die polnische Grenze bei Frankfurt/Oder, Zeit sich zu versichern, dass der Konvoi noch beisammen ist - und für einen ersten Fahrerwechsel. Mein katastrophenschutz-erfahrener Co-/Pilot übernimmt nun das Steuer, er hat genug gesehen und meine Probezeit ist um. Fortan wird er sich auf meine Fahrkünste verlassen und beim nächsten Wechsel unbesorgt auf Tauchstation gehen können. Die gesamte Lenkzeit verteilt sich zwischen uns reziprok zum Alter: er etwa 1400 km, ich knapp 800 km. Jetzt aber geht es auf Poznán zu, es ist schon dunkel, und auf dem Beifahrersitz gehe ich meinen Gedanken nach: Poznán, Reppenstedt: Posener Straße, Eichenbrücker Weg? Ja, wir fahren gerade durch das 1939 völkerrechtswidrig ins Reich eingegliederte Gebiet „Wartheland“ mit der „Gauhauptstadt Posen“. Etwa 4,4 Millionen Menschen lebten dort 1939, über 80 Prozent Polen, etwa zehn Prozent Juden und sieben Prozent Deutsche.  Das „Wartheland“ war das Experimentierfeld der Nazis für die Maßnahmen zur Gewinnung von „Lebensraum im Osten“: Umsiedlungen von „Volksdeutschen“ ins „Wartheland“ sowie Deportation und Vernichtung von Polen, Juden, Sinti und Roma.

Eichenbrück

Etwa 60 Kilometer nördlich unserer Fahrstrecke lassen wir Wągrowiec liegen. 1941 bis 1945 hieß es „Eichenbrück“. Ein im Hof des Landkreises Lüneburg errichteter Obelisk bezeugt die 1953 übernommene „Patenschaft“ des LK für ca. 5000 Angehörigen des „Heimatkreis Eichenbrück/Wangrowitz“. Sie waren in den letzten Kriegsmonaten auf der Flucht vor der Roten Armee im Landkreis LG gestrandet. Unter ihnen ehemalige polnische Staatsangehörige, die, als deutschstämmig erachtet, „aktiv für das Deutschtum“ eingetreten waren oder zumindest „ihr Deutschtum nachweislich bewahrt“ hatten und die deutsche Staatsangehörigkeit zugewiesen bekamen.  Weiter Neusiedler, die aus dem Reichsgebiet oder etwa aus dem Baltikum stammten und die die verlassenen Wohnungen und Höfe vertriebener Polen und Juden im „Wartheland“ besetzten. Auch Schwarzmeerdeutsche, deren Vorfahren Katharina II ab 1810  aus dem von Hungernot bedrohten Südwestdeutschland zur Bestellung der fruchtbaren Erde nördlich von Odessa gerufen hatte. Im Frühjahr 1944 flohen diese „Volksdeutschen“ zusammen mit der Wehrmacht und dem vor allem aus SS-Leuten gebildeten Einsatzkommando R vor der Roten Armee Richtung „Wartheland“, wo sie nicht lange blieben. Wohl nicht nur in Südergellersen stellten sie um die Jahreswende 1944/45 einen beachtlichen Anteil der Bevölkerung dar.


Am Wege liegt Lódz, das zweitgrößte von den Nazis eingerichtete Ghetto. Weiter geht es Richtung Warschau, wir verlassen das Gebiet des ehemaligen „Wartheland“ und kommen in das damals nicht eingegliederte „Generalgouvernement“, es umfasste die besetzten polnischen Gebiete.  Wir sehen weitere Konvois, gelb-blau gekennzeichnet aus allen Regionen der Bundesrepublik, auch teils vereinzelte Fahrzeuge noch westlicherer Herkunft. Die A2 führt uns südlich an Warschau und nahe am Warschauer Ghetto vorbei, wo es im Frühjahr 1943 zum Aufstand jüdischer Milizen gegen Deportationen kam.

Wir biegen nach Süden ab. Es ist schon später Abend, auch im Fahrzeug spüren wir, dass es draußen bitter kalt wird. Keine drei Kilometer von der Schnellstraße lag bei Lublin das ehemalige Konzentrations- und Vernichtungslager Majdanek. Fast 80.000 Menschen sind dort zu Tode gekommen, davon etwa 60.000 Juden. Nach drei Uhr haben wir unser Ziel, die kleine Grenzstadt Hrebenne, fast erreicht, als das Schild „Bełżec“ auftaucht. In diesem Vernichtungslager sind zwischen März und Dezember 1942 nach Zählung der Mörder selbst 434.508 Menschen ermordet worden.

Angekommen an der Grenze

Gegen vier Uhr parken wir die neun Fahrzeuge im Hinterhof einer Unterkunft für Obdachlose und Reisende. Das große Gebäude hat nicht genügend Betten für alle Crew-Mitglieder, so entscheidet sich deren Großteil, im jeweiligen Bus zu schlafen. Nur ich erlaube mir als mutmaßlich ältester Teilnehmer, auf das beinahe flehentliche Bitten der Nachtwache um Nutzung der verbliebenen freien Betten einzugehen. Eine weise Entscheidung bei der Kälte. Ich finde ein sauberes Dreibettzimmer mit Waschbecken und angenehmer Beheizung vor. Kurz vor fünf Uhr schlafe ich ein. Nach zweieinhalb Stunden klingelt der Wecker: eine Handvoll Wasser ins Gesicht, Bettwäsche zusammenpacken, diese und den Schlüssel abgeben. Das polnische Wort für danke kenne ich nicht, also benutze ich das russische Спасибо in der Hoffnung, dass es auf Ukrainisch ähnlich klingt. Glück gehabt. Wir sind hier im nördlichen Galizien, das häufig wechselnden Herrschern unterstand, Ľviv (Lemberg) ist nur 60 Kilometer entfernt. Hier dürften wohl fast alle Bewohner polnisch und ukrainisch sprechen.

Im Hof steht man schon zusammen und bedient sich aus einem Bus an mitgebrachtem Gebäck und Getränken. Unsere famose Organisation hat auch daran gedacht. In der einen Hand ein Brötchen, in der anderen das Smartphone, bereitet sie die nächsten Schritte vor. Kurz darauf verlässt unser Konvoi den Hof und fährt zum nahegelegenen Schwimmbad des Orts, in dessen Rücken die Verwaltung eine Koordinationsstelle eingerichtet hat. Sowohl das Abladen der mitgebrachten Sachen wie auch die Zuteilung der Rückreisenden wird hier gesteuert. Wir legen eine Bescheinigung des Ukrainischen Hilfsstab in Hamburg vor, der sich auch um die Unterbringung von Geflüchteten kümmert, und sind nun legitimiert. Das ist kein bürokratischer Firlefanz. Die meisten Ukraine-Flüchtlinge sind weiblich, und es nicht ohne Belang, wo sie abbleiben. Nach einer kurzen Verweilzeit fahren wir zum Umschlagplatz für den weiteren Transport unserer Ladung in die Kriegsgebiete. Auf dem großen Platz stehen mehrere kleinere Gebäude und ein überdachtes Sportfeld zur Aufnahme bereit. Überall stapeln sich im Freien nach Verwendungsart sortierte Hilfsgüter, stationäre HelferInnen dirigieren das Geschehen und sorgen für die sichere Unterbringung.

Derweil hat unsere flexible Orga.-Abteilung an der Passagierzuordnung gefeilt. Wir übernehmen mit zwei weiteren unserer Busse den Transport von 16 UkrainerInnen nach Hamburg-Altona, Behinderte mit Begleitpersonen. Gegen Mittag holen wir sie in einem Heim ab, wo sie die letzten Tage verbrachten. Drei Rollstühle sind unterzubringen, zwei Mal räumen wir um, bis es passt. Auch unsere Passagiere müssen untergebracht werden, so komfortabel wie möglich, die Reise wird lang und anstrengend. Gegen Mittag fahren wir los, beim Abschied sehen wir in den Augen des zurückbleibenden Pflegepersonals Tränen aufsteigen.

Unsere drei Wagen fahren jetzt zusammen. Andere sind schon unterwegs, etwa nach Barendorf, wo Privatquartiere auf fünf Personen und ein Haustier warten. Knapp 1200 Kilometer noch. Alle zwei bis drei Stunden halten wir an, längeres Sitzen ist unzumutbar. Tapfer erträgt das sicherlich 80-jährige Ehepaar seine enge Sitzposition. Auch die Kinder bleiben weitgehend ruhig. So erreichen wir den Berliner Ring nach Mitternacht und Hamburg-Altona gegen drei Uhr morgens. In der dortigen Unterkunft werden wir erwartet und freundlich begrüßt. Sie wurde von einer privaten Initiative angeboten, nachdem eines ihrer Mitglieder in der S-Bahn ein Telefongespräch mitbekommen hatte, bei dem die neben ihm stehende Vertreterin des Ukrainischen Hilfsstab ihre bis dahin vergebliche Suche schilderte. Es lebe der ÖPNV!

Es lebe die Zivilgesellschaft! 
Peter Piro, Südergellersen
Quelle: (Peter Piro)
Abfahrt Ukraine
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